Michael Funken
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Die Dinos, die Evolution und das Happy End

Nein: "Jurassic Parc" ist nicht philosophisch besonders wertvoll. Um über philosophische Fragen öffentlich zu streiten, sind jedoch Bezugspunkte in Form allseits bekannter Erzählungen nützlich. Früher lieferten Homer und Hölderlin dergleichen, heute tut es Hollywood. Was also könnte - außer der Computeranimation - bemerkenswert sein am Spielberg-Märchen? Zum Beispiel dies: Wer das Rad der Evolution zurückdrehe, so mahnt einer der Film-Akteure, der wisse nicht, was er tue; T. Rex gegen Homo sapiens - für diese Schlacht sei der Mensch nicht geschaffen, und es sei ungewiß, ob er sie gewinnen werde.

Wie das? Ist denn der Mensch nicht die Krone der Evolution? Ist er nicht das neuste, somit beste Modell eines Prozesses, der durch Reproduktion, Mutation und Selektion immer bessere Spezies hervorbringt? Durchweg wird "Evolution" in eben diesem Sinne als "Höherentwicklung" gedeutet. Den Zweikampf Dino-Homo müßte Homo demnach dinohoch gewinnen. Mit Kultur (Technik), Köpfchen und viel, viel Glück kann denn auch der Kino-Mensch dem "Jurassic Parc" entkommen (wäre er nur nie hineingegangen!). Happy End - wir haben´s ja gewußt!

Auf ähnlichem Niveau, wenn auch ohne Cinemascope und Surround-Dolby-Stereo, bewegt sich bisweilen die akademische Diskussion. Wenn es um philosophische Konsequenzen aus der Evolutionstheorie geht, verfallen ganze Wissenschaftszweige in Traumfabrikation. Ethnologen, Biologen und Soziobiologen behaupten, endlich alte philosophische Probleme lösen zu können. Erstes Ergebnis dieses Projekts war die "Evolutionäre Erkenntnistheorie" (EE). Sie sollte zeigen, daß die angeborenen Strukturen der Weltwahrnehmung (Sinnesorgane, Gehirn) dem Menschen ein recht "gutes" (also "wahres") Bild der Wirklichkeit vermittelten. Denn hätte der Mensch allzu irrige Annahmen über die "Welt an sich", dann hätte er nicht überleben können. Ein zunächst plausibles Argument, das einem nach Gewißheit lechzenden Publikum in vielen Auflagen verkauft werden konnte.

Erfolg pflanzt sich bekanntlich fort: In den Beiträgen zur "Evolutionären Ethik" (EE II) wurde das EE-Argumentationsmuster auf Moral übertragen. Moralisch gutes Verhalten, so hieß es, sei bei sozial lebenden Tieren ein Produkt der Evolution, hervorgerufen durch den Zwang zum Zusammenleben: Die Gruppe - und somit alle ihre Mitglieder - könnte nur überleben, wenn die Individuen ihr eigenes Los dem der Gruppe unterordneten ("Altruismus"). Das moral-analoge Verhalten von Tieren (Konrad Lorenz) und die menschlichen Ethiken hätten daher die gleiche Ursache - die Evolution. Nach "EE II" kommt nun "EE III" - die "Evolutionäre Ästhetik" (englisch: Evolutionary Esthetics): Demnach empfinden wir das als ästhetisch-"schön", was sich während unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung als überlebensgünstig erwiesen hat - z. B. gesunde Körper, nahrhafte Speisen, strategisch vorteilhafte Landschaften etc. Kurz: Das Wahre, das Gute und das Schöne -klassische Forschungsobjekte der Philosophie - sollen durch biologisch-evolutionäre Erklärungen ausgemacht werden können. Zudem wird eine natürliche Tendenz zur Verwirklichung dieser Ideen behauptet. Das Böse, Falsche und Häßliche hingegen werde unvermeidlich "aussterben". Genau wie im Kino: Das Happy End ist im Drehbuch der Natur angeblich vorgeschrieben.

Ein schöner Gedanke. Aber ist er auch gut und wahr?

Umgehend möchte man das Argument vom "naturalistischen Fehlschluß" (G.E. Moore) beisteuern: Aus dem, was faktisch ist, folge niemals, daß es auch "gut" so ist, also sein soll. Vielmehr mache jede Rede vom "Sollen" nur dann Sinn, wenn das, was sein soll, eben nicht schon ist. Aber so einfach ist es nicht. Denn der Reiz der Evolutionstheorie liegt ja nicht darin, daß sie das Seiende beschreibt, sondern daß sie zu erklären beansprucht, wie die Dinge sich verändern; wie etwas, das bis dato nicht ist, schließlich wird - und somit ist. Die Evolutionstheorie ist eine historische Erklärung, nämlich eine Natur-Geschichte. Und die EE-Trilogie behauptet, daß evolutionäre Prozesse nach gewissen Gesetzmäßigkeiten ablaufen, die der Mensch erkennen könne; ja, mehr noch: diese Gesetze steckten in dem Menschen, da er selbst Evolutionsprodukt sei. Menschliche Vernunft wäre nichts anderes als die Einsicht in die (vernünftigen) Evolutionsprinzipien. Der Gedanke ist übrigens ein ausgesprochenes Fossil und läßt sich mindestens bis zum Logos-Prinzip der antiken Vorsokratiker zurückverfolgen.

Evolutionäre Ansätze können daher den Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses umgehen. Doch bezahlen sie dies mit einem hohen Preis: Wenn der Evolutionismus das "Sollen" nicht aus dem "Sein" ableitet, sondern aus dem Werdensprozeß, dann kann er so lange kein abschließendes Urteil fällen, wie der Werdensprozeß andauert. Es gibt keinen Stichtag für die evolutionäre Bilanz: Wenn eine Tierart bis heute überlebt hat, dann folgt daraus keineswegs, daß sie gut angepaßt ist - denn es könnte sein, daß der Prozeß des Aussterbens schon eingeleitet, aber nur noch nicht vollendet ist. Die Dinosaurier sind uns vielleicht nur einen kleinen Schritt voraus.

Dieses Ergebnis läßt sich übertragen: Selbst wenn die Evolution langfristig zu richtiger Erkenntnis tendieren sollte - eine im übrigen metaphysische Annahme - , heißt das nicht, daß wir Menschen immer richtig erkennen. Unsere angeborenen Wahrnehmungsstrukturen sind zugeschnitten auf das Überleben von Jägern und Sammlern in der Savanne. Das "absolute Wissen", das bei Hegel am Ende des Weltprozesses steht, haben wir damit noch nicht erreicht. Tatsächlich zeigen technische Hilfsmittel (Mikroskope, Teleskope, Infrarotmeßgeräte, Geigerzähler etc.) mittlerweile sehr deutlich, wie wenig "wahr" unsere "nackte" Weltwahrnehmung ist.

Ähnlich mager ist das Ergebnis der "EE II": Selbst wenn sich moralisches Handeln langfristig durchsetzen sollte, ist damit nicht die Moralität unserer angeborenen Handlungsneigungen garantiert. Manchmal sind manche Triebe gut, manchmal sind manche schlecht. Noch nicht einmal die evolutionär erklärbare Neigung des Menschen zur Gruppensolidarität ist Garantie für "gute" Handlungen: Es könnte ja sein, daß man mit der "falschen" Gruppe solidarisch ist, etwa einer Verbrecherbande. Was seine evolutionäre Mitgift betrifft, so steht dem Menschen die ganze Bandbreite vom Egoismus über die Mafia-Moral bis hin zum Weltbürgertum frei.

Was ist schließlich von "EE III" zu halten, der Evolutionären Ästhetik? Daß es Schönheit in der Natur gibt, ist unbestritten. Freilich, es gibt auch vieles, was die meisten als häßlich bezeichnen würden: manche "toten" Landschaften, manche Tierarten oder, vor allem, von "Krankheit" und "Mißbildung" entstellte Körper. All das ist "natürlich". Selbst wenn das Schöne (=Gesunde?) evolutionäre Vorteile gegenüber dem Häßlichen hat, so heißt das keineswegs, daß heutzutage alles schön ist.

Die beste aller Welten, von der Leibniz träumte, garantiert uns auch die EE-Triologie nicht. Was gut, wahr und schön ist, das zeigt sich - wenn überhaupt! - erst am Ende der Evolution. Bis dahin müssen wir auf absolutes, objektives Wissen verzichten und uns mit Vermutungen begnügen. Das heißt nicht, daß ein "Happy End" ausgeschlossen wäre! Nur: Der Film läuft noch...

 

Preisträger beim "Wissenschaftsschreiberwettbewerb" der Friedrich-Schiller-Universität Jena 1993.
©Michael Funken 1993

Update: 24.06.1997